Zeitgeschichte Chinas
GeschichteDie Zeitgeschichte Chinas ist geprägt von tiefgreifenden Veränderungen, die das Land von einer jahrtausendealten Agrargesellschaft zu einer globalen Wirtschaftsmacht gewandelt haben.
Von Giacomo Dragone
25/09/2024
1. Die Gründung der Republik China
Die Revolution von 1911 markierte das Ende der Qing-Dynastie, die seit 1644 China regiert hatte, und führte zur Gründung der Republik China. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Qing-Reich schwer angeschlagen. Es litt unter innerer Korruption, wirtschaftlicher Stagnation und einer Serie von Niederlagen in Konflikten mit westlichen Mächten und Japan, was den Einfluss ausländischer Mächte in China stärkte. Die Bevölkerung war unzufrieden, und Reformversuche der Qing, wie etwa die Einrichtung von Verfassungsreformen, konnten den Niedergang des Reiches nicht aufhalten. Hinzu kamen Naturkatastrophen, Hungersnöte und wirtschaftliche Missstände, die die soziale und politische Lage weiter verschärften.
In diesem Umfeld gewann die Idee einer Revolution gegen die Monarchie immer mehr an Unterstützung. Die revolutionären Bewegungen waren vor allem durch den Nationalismus und das Streben nach Modernisierung und Unabhängigkeit Chinas motiviert. Eine zentrale Figur dieser Bewegung war Sun Yat-sen, der die Ideale einer republikanischen Staatsform vertrat. Sun Yat-sen war ein entschiedener Gegner der Monarchie und setzte sich für die Beseitigung der Qing-Dynastie ein, um China zu modernisieren und demokratische Strukturen zu etablieren.
Der entscheidende Moment der Revolution ereignete sich am 10. Oktober 1911, als in Wuchang ein Aufstand gegen die Qing-Regierung ausbrach. Dieser Wuchang-Aufstand löste eine Kettenreaktion aus, in der viele Provinzen ihre Unabhängigkeit von der Zentralregierung erklärten. Innerhalb weniger Wochen geriet die Qing-Herrschaft ins Wanken. Sun Yat-sen, der zu dieser Zeit im Ausland war, kehrte nach China zurück, um die Revolution zu unterstützen.
Am 1. Januar 1912 wurde in Nanjing offiziell die Republik China ausgerufen, und Sun Yat-sen wurde ihr erster provisorischer Präsident. Dies bedeutete das Ende der über 2000 Jahre währenden kaiserlichen Herrschaft in China.
Obwohl die Revolution von 1911 die Monarchie beendete, führte sie nicht unmittelbar zu einer stabilen Republik. Das politische Chaos und die Machtkämpfe in den folgenden Jahren prägten die frühen Phasen der Republik China, die schließlich in eine Phase der Warlord-Herrschaft und weiterer Unruhen mündete.
Sun-Yat-sen-Mausoleum in der chinesischen Stadt Nanjing
2. Der Bürgerkrieg
Der chinesische Bürgerkrieg war ein langer Konflikt zwischen der Kuomintang (KMT) und der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), der von 1920 bis 1949 dauerte. Zunächst arbeiteten beide Seiten zusammen, um das Land von den Warlords zu befreien, die nach dem Sturz der Qing-Dynastie die Kontrolle übernommen hatten. Doch 1927 löste sich die Allianz auf, als Chiang Kai-shek, Kommandant der nationalistischen Kräfte der Kuomintang, begann, die Kommunisten zu verfolgen. Diese Phase des Bürgerkriegs führte dazu, dass sich die KPCh ins ländliche China zurückzog, wo sie Unterstützung bei den Bauern fand.
Ein Wendepunkt im Konflikt war der Lange Marsch (1934-1935), bei dem die Kommunisten gezwungen waren, vor den Truppen der KMT zu fliehen. Trotz der enormen Verluste festigte Mao Zedong während dieses Marsches seine Führungsrolle innerhalb der KPCh und legte den Grundstein für eine erneuerte kommunistische Bewegung im Norden Chinas. Der Bürgerkrieg wurde während des Zweiten Weltkriegs unterbrochen, da beide Parteien gezwungen waren, gegen die japanische Invasion zusammenzuarbeiten. Dennoch blieben die Spannungen bestehen, und nach dem Ende des Krieges flammten die Kämpfe wieder auf.
Nach 1945 verschärfte sich der Bürgerkrieg erneut, da beide Seiten um die Kontrolle über China kämpften. Die KPCh gewann dabei zunehmend an Unterstützung, insbesondere in ländlichen Gebieten, während die KMT unter Korruption und wirtschaftlichem Chaos litt. Trotz der militärischen Unterstützung der USA konnte die KMT der KPCh, die von der Sowjetunion unterstützt wurde, nicht standhalten. In den späten 1940er Jahren errang die KPCh eine Reihe entscheidender militärischer Siege, was dazu führte, dass die KMT-Führung und ihre Anhänger nach Taiwan fliehen mussten.
Am 1. Oktober 1949 proklamierte Mao Zedong in Peking die Gründung der Volksrepublik China. Damit endete nicht nur der Bürgerkrieg, sondern auch die jahrzehntelange Instabilität und Fremdherrschaft, die China geprägt hatten. Die KPCh etablierte sich als die dominierende politische Kraft im Land und begann, das Land nach sozialistischen Prinzipien umzugestalten.
3. Die Ära Mao Zedongs
Die Ära Mao Zedongs, die von 1949 bis zu seinem Tod 1976 dauerte, war eine Zeit tiefgreifender Umwälzungen in China. Nach der Gründung der Volksrepublik China setzte Mao eine radikale sozialistische Agenda durch, die das Land umfassend verändern sollte. Die erste große Maßnahme war die Bodenreform, bei der Landbesitzer enteignet und das Land an die Bauern verteilt wurde. Dies führte zu einer massiven Umverteilung des Eigentums, aber auch zu Gewalt und politischen Kampagnen gegen „Klassenfeinde“. Die KPCh festigte ihre Macht durch die Eliminierung von Opposition und die Schaffung eines Einparteienstaates. Maos Ziel war es, China von den Folgen des Kolonialismus und des Bürgerkriegs zu erholen und eine sozialistische Gesellschaft zu errichten.
Eine der radikalsten Phasen dieser Ära war der „Große Sprung nach vorn“ (1958-1962), ein Versuch, die Industrialisierung des Landes zu beschleunigen und gleichzeitig die landwirtschaftliche Produktion zu steigern. Kollektive Landwirtschaft und Volkskommunen wurden eingeführt, um die Nahrungsmittelproduktion zu maximieren und die ländliche Bevölkerung zu mobilisieren. Dieser Plan scheiterte jedoch katastrophal. Fehlgeleitete Anreize, übertriebene Produktionsziele und schlechte Verwaltung führten zu einem massiven wirtschaftlichen Einbruch und einer Hungersnot, bei der schätzungsweise 15 bis 45 Millionen Menschen starben. Der „Große Sprung nach vorn“ untergrub Maos Ruf, obwohl er an der Macht blieb.
Um seine ideologische Kontrolle zu festigen und eine „neue Kultur“ zu schaffen, leitete Mao 1966 die „Kulturrevolution“ ein. Ziel war es, angeblich revisionistische Elemente in der Partei und der Gesellschaft auszumerzen, die vom sozialistischen Weg abweichen könnten. Dabei wurden Millionen von Intellektuellen, Beamten und einfachen Bürgern Opfer von Säuberungen, Repressionen und Gewalt durch die „Roten Garden“, einer von Mao inspirierten Jugendbewegung. Schulen und Universitäten wurden geschlossen, historische Stätten zerstört und das Land in ein politisches Chaos gestürzt. Die Kulturrevolution zerstörte das soziale Gefüge Chinas und führte zu Jahren der Instabilität, bevor sie Anfang der 1970er Jahre beendet wurde.
Maos Tod 1976 markierte das Ende dieser Ära der extremen politischen Experimente. Trotz der massiven Verluste und Verwerfungen, die seine Politik verursacht hatte, wird Mao in China weiterhin verehrt, da er als Begründer der Volksrepublik und Symbol des nationalen Stolzes gilt. Nach seinem Tod übernahm Deng Xiaoping die Führung und leitete eine Phase der Reformen und Öffnung ein, die China auf einen neuen, pragmatischeren wirtschaftlichen Kurs brachte.
Kulturrevolution
4. China im 21. Jahrhundert: Aufstieg und Herausforderungen
Im 21. Jahrhundert hat sich China als globale Supermacht etabliert. Mit beeindruckendem Wirtschaftswachstum und technologischer Modernisierung hat das Land eine Schlüsselrolle in der internationalen Politik und Wirtschaft übernommen. Dank gezielter wirtschaftlicher Reformen, einer wachsenden Mittelschicht und massiven Investitionen in Infrastruktur, Technologie und Innovation ist China heute die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Internationale Initiativen wie die Neue Seidenstraße (Belt and Road Initiative) unterstreichen Chinas Bemühungen, seinen globalen Einfluss weiter auszubauen.
Trotz des beeindruckenden Aufstiegs steht China vor erheblichen Herausforderungen. Einer der größten ist die demografische Entwicklung. Jahrzehntelang galt die Ein-Kind-Politik, die zu einer alternden Bevölkerung und einem Ungleichgewicht der Geschlechter geführt hat. Der rapide demografische Wandel könnte das Wirtschaftswachstum bremsen, da der Anteil der arbeitenden Bevölkerung schrumpft. Zudem muss China seinen Übergang von einer exportorientierten zu einer konsumgesteuerten Wirtschaft meistern, um langfristige Stabilität zu gewährleisten. Auch die steigende Umweltverschmutzung stellt eine ernste Bedrohung für das Land dar, was zu einer wachsenden Dringlichkeit für nachhaltige Lösungen führt.
Im Bereich der internationalen Beziehungen steht China vor einer komplexen geopolitischen Situation. Der Wettbewerb mit den USA um technologische und wirtschaftliche Vorherrschaft prägt das globale Machtgefüge. Handelskriege, Sanktionen und der Konflikt um Technologien wie 5G und Künstliche Intelligenz (KI) haben die Spannungen zwischen den beiden Mächten verschärft. Hinzu kommen territoriale Streitigkeiten, insbesondere im Südchinesischen Meer, sowie der Umgang mit Taiwan und Hongkong, die international kontrovers diskutiert werden und Chinas Image auf der globalen Bühne beeinflussen.
Innenpolitisch sieht sich China mit sozialen und politischen Herausforderungen konfrontiert. Die Regierung unter Xi Jinping verfolgt eine zunehmend autoritäre Politik, was zu wachsendem Unmut in Teilen der Bevölkerung führt. Die Überwachungstechnologien und die Einschränkung der Meinungsfreiheit sorgen für Kritik seitens westlicher Demokratien. Dennoch bleibt die Kommunistische Partei Chinas fest an der Macht, gestützt durch wirtschaftliche Erfolge und einen starken Staatsapparat. Ob China in der Lage sein wird, seine wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen zu bewältigen und weiterhin global zu dominieren, bleibt eine der zentralen Fragen des 21. Jahrhunderts.